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Fluchtversuch


Sommer 1961, Mauer und Stacheldraht sind gezogen. Kurz darauf unternimmt Tennstedt mehrere Fluchtversuche, zwei davon mit dem Opernsänger Rolf Oberste-Brink. Der Plan ist folgender: Sie wollen mit einem Faltboot über die Ostsee nach Dänemark. Aus dem uralten VW-Käfer von Rolf Oberste-Brink wird der Rücksitz ausgebaut, damit das zusammengelegte Boot samt Außenborder hineinpaßt. Anschließend wird alles zugedeckt, und somit ist das kleine Auto voll. Doch zuvor muß das geprobt werden.                  Das Fluchtfaltboot

Rolf Oberste-Brink: Dieses Boot lagerte in der Garage. Meine Frau und ich haben es öfters auseinander-genommen, paketweise verschnürt und heimlich in die Wohnung gebracht. Wir haben dort geübt, wie wir das Boot im Dunkeln zusammenbauen können: Keine Taschenlampe, damit uns niemand sieht, und wer übernimmt welchen Handgriff? Das konnten wir nur innerhalb unserer Wohnung ausprobieren.

In einem zweiten Wagen sitzen die Fluchtaspiranten Tennstedt, Frau Oberste-Brink und ein Operettentenor. Der Fahrer dieses Wagens ist der Tenorkollege Kurt Helm. Wenn alles gelingt, wird er das Auto alleine wieder nach Schwerin zurückfahren. Offiziell werden alle eine „Urlaubsreise“ unternehmen, an Rostock vorbei nach Darßer Ort. Das sind etwa 150 Kilometer auf holprigen Landstraßen.

Darßer Ort (in der Karte oben rechts) ist zu dieser Zeit ein Hotspot für Fluchtversuche, denn es liegt Dänemark am nächsten. Zwar ist das gegenüberliegende Festland von hier aus nicht zu sehen - es liegt viel zu weit unter dem Horizont. Aber zwischen Darßer Ort und Gedser, dem südlichsten Zipfel von Dänemark, ist auf halbem Weg ein Feuerschiff verankert. Es heißt Gedser Rev und liegt in der Kadetrinne (heute nicht mehr). Hier wollen die vier Republikflüchtlinge an Bord gehen und um Aufnahme bitten.

Woher sie wissen, wie sie über die steile Bordwand auf das Schiff gelangen können? Sie wissen es nicht. Ob das Feuerschiff überhaupt bemannt ist? Wissen sie auch nicht. Erfahrung mit Wind und Wellen der Ostsee? Keine. Ein Himmelfahrtskommando.

Georg Wübbolt: Wann war das?
Rolf Oberste-Brink: 1962, und den Abend vorher hatte Klaus noch ein Konzert zu dirigieren, die 1. Sinfonie von Johannes Brahms. Meine Frau und ich saßen in der ersten Reihe und waren am weinen. Sie können sich vorstellen, das war eine Schicksalsstunde. Mit dieser Musik haben wir gedacht, das ist entweder der Untergang oder die Freiheit.

Dann gab es Applaus, und der Klaus kam zum Verbeugen. Diese Gestalt, diese eingefallenen Wangen, dieses fanatische Gesicht, dieses erschöpfte Gesicht. Mein Gott. Ich bin immer noch ganz ergriffen davon. Und das war er immer. Wir hatten damals einen Chordirektor, der sagte: Tennstedt, das ist auch so jemand, den die Musik kaputt macht.

Wie mag er sich gefühlt haben?        Bild: Konzertprobe in Schwerin
Ich kann immer noch vormachen, wie er da vor dem großen Orchester steht und wie er den Auftakt gibt mit seinen Riesenarmen. Er war immer seelisch vollständig in der Musik drin. Den Eindruck habe ich vor allen anderen bei ihm gehabt. Bei Masur noch nicht mal so sehr. Aber bei ihm.

Dann kam die Verabschiedung von Inge [seiner Frau]. Das war… ich kann es nicht sagen, ohne dass mir heute noch die Tränen kommen. Sie konnte ja nicht mit – traurig, aber auch Angst. Vielleicht wollte sie auch ihren Sohn Janos nicht im Stich lassen. Tennstedt klemmte nur seine Geige, seine geliebte Geige untern Arm. Das war´s.
Kein Gepäck?
Nee, das konnte man nicht.
Und Geld?
Unser Geld war doch nichts wert.       Lesen Sie im Buch, wie es weitergeht.

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